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Die Familie hinter Edvard Munch - ein Pakt im Zeitalter der "Degeneration"?

Der Vortrag der norwegischen Autorin Bodil Stenseth baut auf ihr Buch über Edvard Munch auf.


Die norwegische Historikerin und Autorin Bodil Stenseth veröffenlichte 2004 das Buch "Pakten. Munch - en familiehistorie" (Aschehoug Verlag), eine Biographie über den norwegischen Maler Edvard Munch und seine Familie. Stenseth hielt im Herbst 2004 in Berlin und Warnemünde einen auf ihren Untersuchungen bauenden Vortrag. Das Manuskript zum Vortrag liegt jetzt im Norwegenportal vor.

"Die Familie hinter Edvard Munch – ein Pakt im Zeitalter der „Degeneration“?"

Vortrag von der norwegischen Autorin Bodil Stenseth (), gehalten im Nordeuropa-Institut der Humboldt Universität zu Berlin am 26.10.04 und im Edvard Munch-Haus in Warnemünde, 29.10.04.

"In Oslo gibt es einen kleinen, alten Friedhof, den kaum jemand mehr kennt. Der Christ Friedhof liegt abseits des Verkehrs im heutigen Oslo. Er ist nicht leicht zu finden, eingeklemmt wie er ist, zwischen der Deichmanske Bibliothek, der Schwedischen Margaretakirche und großen Bürogebäuden. Dort schläft der Christ Friedhof versteckt und vergessen friedlich vor sich hin. An einem kalten Januartag wollte ich ihm einen Besuch abstatten. Aber die Pforte war verschlossen. Ich blieb draußen stehen und starrte in den dunklen Friedhof. Dort lag der Schnee weiß und unberührt und erhellte die Szene etwas, sodass ich zwischen den hohen, nackten Laubbäumen die Konturen großer alter Grabsteine erkennen konnte. Mir wurde es unheimlich zumute.

Der Grund, warum ich den Friedhof besuchen wollte, war weil ich an einem Buch über die Familie des berühmten Künstlers Edvard Munch schrieb. Von einem früheren Besuch her weiß ich, dass die Mutter, Laura Munch, geborene Bjølstad (1838–1868), der Vater, Doktor Christian Munch (1817–1889) und die Schwester, Sophie Munch (1862–1877) einen gemeinsamen Grabstein haben  – einen einfachen rechteckigen Stein aus Granit. Zwei Reihen weiter unten ist der Bruder begraben, Doktor Peter Andreas Munch (1865–1895). Das monumentale Grabmal wurde ihm – wie die Inschrift – berichtet, von Freunden auf der Insel Hadsel in Nordnorwegen errichtet.

Von diesen vier Mitgliedern der Familie Munch erreichte nur Edvards Vater ein gewisses Alter – er wurde 72 Jahre alt. Die Mutter starb mit dreißig, die Schwester mit fünfzehn und der Bruder mit dreißig Jahren. Dass sie auf dem Christ Friedhof begraben wurden, war Christian Munchs Stellung zu verdanken. Er war Militärarzt auf der Akershus Festung, dem Hauptquartier des norwegischen militärischen Oberkommandos, und der Christ Friedhof gehörte zur Garnisonsgemeinde. Der Friedhof wurde 1924 niedergelegt. Die moderne Stadtplanung machte ihn zur Geschichte. 

Nun kann man sagen, dass alle Friedhöfe makaber sind, aber der Christ Friedhof ist besonders unheimlich. Man hatte ihn im Jahre 1654 als Pestfriedhof für die Schlossgemeinde der Festung angelegt – weit außerhalb des Festungsgrabens. Die Inschrift auf einem Monument neben der Pforte lehrt uns, dass in diesem Jahr der letzte Ausläufer der Pest in Christiania (heute Oslo) wütete. Das „Pestdenkmal“ war zu Ehren von Arne Sigvardsøn errichtet worden, dem ersten Todesopfer der Pest. Das Pestdenkmal ist das älteste öffentliche Monument in der Hauptstadt Norwegens. 

Die Pest oder die Seuche, wie man dazumal Krankheiten mit großer Sterblichkeit nannte, suchte die vormoderne Gesellschaft häufig heim – vor allem in den Städten. Man nimmt an, dass der schwarze Tod (1348–1350) und dessen letzter Ausläufer, die Pest im Jahre 1654, mehr als einem Drittel der norwegischen Bevölkerung das Leben gekostet hatte. Der alte Ausdruck, jemanden scheuen oder meiden wie die Pest, sagt etwas aus über die Haltung der Gesellschaft gegenüber jemandem, der von einer gefährlichen ansteckenden Krankheit betroffen wurde. Im 19. Jahrhundert war nicht mehr die Beulen- oder Lungenpest der Massenmörder, sondern die Auszehrung oder Tuberkulose. Zur Zeit als Christian und der Sohn Peter Andreas Munch als Ärzte wirkten, ging die Tuberkulose unter dem Namen „Schwindsucht“ oder „weiße Pest“. 

Nicht weit entfernt vom Christ Friedhof liegt „Vår Frelsers“ Friedhof. Dieser wurde 1808 eingeweiht und später mehrmals erweitert. Im Ehrenhain, der das freie selbständige Norwegen und die großen Männer der Nation symbolisiert, ruhen die sterblichen Überreste von Edvard Munch (1863–1944). Auf dem Grabmal thront seine in Bronze gegossene Büste; er steht in einsamer Majestät – etwas abseits von andern berühmten Mitbürgern.
 Ein paar Tage danach nahm ich Kurs auf den Nordstrand Friedhof (am südlichen Rand von Oslo) und unterwegs mit der Straßenbahn erlebte ich das gesamte Spektrum des modernen Oslo. Schließlich langte ich in dem ländlich-urbanen Villenidyll um den Nordstrand Friedhof an. Ich musste ziemlich lange suchen, bis ich das Grab der letzten Familienmitglieder von Edvard Munch fand. Auf den ersten Blick sah er aus wie ein gewöhnlicher Grabstein. Auf der Vorderseite des Granitsteins las ich: Laura Munch  (1867–1926) Karen Bjølstad (1839–1931) und Inger Marie Munch (1868–1952). Aber als ich meine Aufmerksamkeit auf die hintere Seite des Grabsteins richtete, entdeckte ich eine sonderbare Inschrift. Hier stand geschrieben: „Hier ruht Edvard Munchs Tante, die an seiner Mutters statt – und zwei seiner Schwestern. Die drei Frauen liebten und unterstützten ihn und in seinen Jahren der Drangsale zweifelten sie nie an seiner großen Begabung.“ Erst nachdem ich diese Grabinschrift gelesen hatte, die von Inger Munch aufgesetzt worden war, dem letzten der noch lebenden Kindern von Laura und Christian Munch, ging mir wirklich auf, wie viel die Familie für Edvard Munch und seine Künstlerkarriere bedeutet hatte. Dies bestätigte mir, dass es wirklich etwas an sich hatte, mit meinen Untersuchungen dieser besondern Familiengeschichte weiterzufahren. So – hier jedoch etwas verkürzt – beginnt mein neues Buch „Der Pakt. Munch – eine Familiengeschichte“.

Über Edvard Munch und die Familie

Für viele ist Edvard Munch der große Einsame. Der Künstler, der zu seinen Lebzeiten als Genie verehrt wurde; seine Kunst war berühmt, nicht nur in seinem Heimatland, sondern in der ganzen Welt, und besonders in Deutschland. Edvard Munch wurde alt. Er starb mit einundachtzig Jahren in seinem Bett auf Ekely – einem großen ländlichen Sitz, den er 1916 außerhalb von Oslo erworben hatte. Er starb als Junggeselle und hinterließ keine Kinder.

Es ist vielleicht nicht so bekannt, dass Edvard Munch sein ganzes Leben lang stark mit seiner Familie verbunden war. Davon zeugen die vielen Familienbriefe, die sich im Original im Munchmuseum in Oslo befinden. 1949 gab Inger Munch, seine jüngste Schwester, eine Sammlung ausgewählter und redigierter Familienbriefe heraus; insgesamt 425 Stück, der erste von1860 und der letzte von 1943. Ich schätze die Gesamtanzahl auf das Doppelte. Vor mir hat noch niemand dieses gesamte Briefmaterial in einem Buch oder einer Abhandlung ausgenutzt. Im Munch-Museum gibt es auch eine Menge Dokumente, die Edvard und Inger Munch dem Museum geschenkt haben. Es dreht sich um Familienaufzeichnungen und –Chroniken, Tagebücher – darunter die literarischen Tagebücher des Künstlers, Notizhefte und Aufzeichnungen – Familienfotografien und –Bilder.

Es ist nichts Sensationelles dabei, zu behaupten, dass die Familie für Munchs Kunst und für seine Karriere von großer Bedeutung war. Mehrere seiner berühmten Gemälde, wie „Das kranke Kind“, „Frühling“ und „Tod im Krankenzimmer“ gehen auf Erlebnisse im  engsten Familienkreis zurück. Ich muss übrigens bekennen, dass ich, als ich vor einigen Jahren ein Buch über Edvard Munch und seine Familie zu schreiben begann, war dies darauf zurückzuführen, dass Munchs Kunst mich von Anfang an sehr fasziniert hat. Als junger Mensch studierte ich Kunstgeschichte und arbeitete als Museumsführerin im Munchmuseum. Nach meiner Ausbildung als Historikerin war ich Forschungsassistentin und beteiligte mich in dieser Verbindung an der Gestaltung zweier Ausstellungen: „Edvard Munch und seine Modelle“ und „Munch und Fotografie“. Mein erstes Buch war eine Biografie über Birgit Prestøe, Munchs bekanntestes Modell der Ekely-Periode.

Über die Familiengeschichte

„Der Pakt“ ist, wie aus dem Untertitel hervorgeht, eine Familiengeschichte und ich werde zu erklären versuchen, was ich mit Familiengeschichte meine. Es ist die Geschichte über die Kernfamilie von Laura und Christian Munch, die den Rahmen des Buches bildet. Diese kann man Familienbiografie nennen, da ich jedoch interdisziplinär arbeite und der Erzählung eine mentalitätsgeschichtliche Perspektive gebe, gehe ich über die Grenzen der konventionellen Biografie hinaus. Der Zweck meiner eingehenden Studie des Privatlebens in der Munchfamilie und der Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern, ist nicht nur als Beitrag zu einem besseren Verständnis des Menschen und Künstlers Edvard Munch gemeint, sondern auch als Reflektion über Bedingungen und Rolle der Familie vor hundertfünfzig Jahren und heute. 

Ich zeige ein Gruppenbild einer Familie in deren Mitte sich ein genialer Künstler entfaltet. Dies bringt mit sich, dass Edvard Munch in meiner Erzählung nach und nach zur Hauptperson wird. Trotzdem wäre es nicht richtig , das Buch eine Munchbiografie zu nennen; dazu ist mein Quellenmaterial zu begrenzt. Das Bild, das ich von Edvard Munch entwerfe, ist nicht vollständig; es sind die familiengeschichtlichen und mentalitätsgeschichtlichen Konturen, die ich aufzeichne und die Felder, die ich in seinem Porträt ausfülle.

Was verstehe ich unter einer mentalitätsgeschichtlichen Perspektive? Mentalitäts- oder Gesinnungsgeschichte hat mich während der ganzen Zeit als Historikerin und Autorin als Fachdisziplin stark beschäftigt. Mentalitätshistorie handelt vom Wissensuniversum, von Werten und Normen vergangener Zeiten; von dem was einmal üblich war – verbreitete Haltungen, Denkweisen und Vorstellungen. Hier kann Philippe Ariès der so genannte „Sonntagshistoriker“ genannt werden, der unter anderem über die Geschichte der Kindheit geschrieben hat. Weiter Michel Foulcault, der Philosoph, der Bücher über die Geburt der Klinik, über die Archäologie des Wissens und über die Geschichte der Sexualität herausgegeben hat.

Die zeittypische Mentalität kann aus Dokumenten, Bildern, Sachprosa, Belletristik, Gegenstandsmaterial und anderem herausgelesen werden. In der zeitgenössischen Gegenwart nimmt man dies oft als selbstverständlich hin. Aber die Mentalität verändert sich im Laufe der Zeit; Mentalitätshistoriker studieren daher auch die Veränderungen. In meinem Munch-Buch schildere ich den stark ausgeprägten emotionellen Raum, in dem die Familie um Edvard Munch lebte. Mich interessiert das Zeittypische und Besondere einer Familie, die einen weltberühmten Künstler hervorbrachte.

In jedem der sechs Kapitel behandle ich die Geschichte der Familie Munch im Lichte folgender mentalitätshistorischer Themen:
1. Funktion und Rolle der Familie
2. Haltung gegenüber Krankheit und Tod
3. Die Künstlerrolle – Krankheit und Kreativität
4. Männer- und Frauenrolle
5. die moderne Identität
6. Die äußeren Manifestationen der Modernität
Diese Punkte werden auch im Zusammenhang mit den folgenden Begriffen untersucht:
– Industrialisierung, Urbanisierung und Klassengesellschaft
– Kommunikationsgesellschaft und Globalisierung
– Durchbruch der Modernität
– Die moderne Gesundheits- und Sozialpolitik
Der Text besteht also aus mehreren Textschichten oder –Ebenen.

Über Quellen und Literatur

Die wenigsten Familien haben ein so reichhaltiges privates Quellenmaterial hinterlassen wie Edvard Munchs Familie. Eine Erklärung dafür könnte natürlich die Sammelmanie der Familie gewesen sein, aber wahrscheinlich geht es eher darauf zurück, dass die Familie sah, dass in Edvard ein genialer Künstler steckte. Die familiengeschichtlichen Dokumente im Munch-Museum konzentrieren sich auf ihn. Die Familienbriefe waren von größter Bedeutung für mein Hauptanliegen, nämlich einen Blick von dem emotionellen Raum der Munch-Familie zu erhaschen.

Außerdem baue ich auf eine umfassende mentalitätsgeschichtliche Literatur, die für den kontextuellen Zusammenhang und die Interpretation der familienbiografischen Quellen wichtig ist. Hervorheben möchte ich vor allem Michelle Perrot, Redakteurin von „From the Fires of Revolution to the Great War“, Band 4 in „ A History of Private Life“, indem Philippe Ariès und George Duby die Hauptredakteure sind (erste Ausgabe 1987, englische Version 1990). Weiter stütze ich mich auf eine umfassende norwegische und internationale Forschungs- und populärwissenschaftliche Literatur über Edvard Munch.

Unglücklich auf ihre eigene Art?

Vergessen wir nun alles, was wir über Munch und seine Familie wissen. Fangen wir mit dem Anfang an – dem dreiundvierzigjährigen Junggesellen, Militärarzt Christian Munch und seiner zwanzig Jahre jüngeren Laura Bjølstad im Jahre 1860. Sie begegneten sich und verliebten sich ineinander, und nachdem Lauras Eltern Doktor Munchs Heiratsantrag akzeptiert hatten, konnten sie die Heirat planen und ihr neues Heim vorbereiten. Mit damaligen Augen gesehen, war die Heirat eine Mesalliance: Munch kam von einer einflussreichen norwegischen Beamten-Familie, zu der Geistliche, Dichter und Wissenschaftler zählten. Fräulein Bjølstad war die Tochter eines Mannes aus dem Bauernstand, der sich in Fredrikstad als Kapitän und Kaufmann heraufgearbeitet hatte. Aber Laura und Christian waren moderne Menschen; sie heirateten aus Liebe und fanden sich in einem innigen, bekennenden Erweckungschristentum. 

Beim Versuch, in der Familiengeschichte zu graben, tauchten viele Fragen auf. Hatte Doktor Munch, der zeitweise von einer unerträglichen, nervösen Unruhe gepackt wurde, seiner Verlobten von der Nervosität berichtet, die sein Geschlecht heimsuchte. Wusste er, dass Auszehrung oder Tuberkulose der Grund mehrerer frühen Todesfällen auf Mutters Seite in Lauras Familie war? In allen Familien gibt es dunkle Geheimnisse, Geheimnisse, die man versucht in der Familie zu bewahren. Dass Laura nicht gesund war, geht aus Briefen hervor; und vor der Heirat hielt sie sich zur Genesung auf dem Land auf.

Im Herbst 1861 fand die Heirat statt und die beiden ließen sich in einem Dorf in Ostnorwegen nieder. Die junge Laura war sehr fruchtbar und die Geburten häuften sich: Sophie, Edvard und Andreas, der in Christiania/Oslo das Licht der Welt erblickte. Christian Munch hatte dort eine neue Stellung bekommen – ein wohlhabender Mann wurde er jedoch nie. Dann kam noch eine Tochter, Laura, nach der Mutter benannt. Als Frau Munch jedoch ihr nächstes Kind erwartete, wurde sie so krank, dass sie glaubte, sie müsse sterben. In der vormodernen Gesellschaft war die Mortalität unter jungen schwangeren Frauen unheimlich hoch und wie es der Brauch war, schrieb sie einen Abschiedsbrief an ihre Kinder, in dem sie diese bat, sich an Gott und seine Gebote zu halten, sodass sie sich alle im Himmel wieder fänden.

Wie durch ein Wunder überlebte sie und im Februar 1868 kam ein kerngesundes Mädchen, Inger, auf die Welt. Im Laufe von sieben Jahren hatte Laura Munch fünf Kinder geboren. „Mamas Testament“ wurde jedoch aufbewahrt; es befindet sich heute im Munch-Museum in Oslo. Aber bevor noch das Jahr um war, war Laura Munchs Leben nicht mehr zu retten. Zwischen Weihnacht und Neujahr schickte man die beiden ältesten Kinder, Sophie und Edvard ins Krankenzimmer, damit sie von der sterbenden Mutter Abschied nehmen konnten. Laura Munchs noch einzig lebende Schwester, Karen Bjølstad, kam an Mutters statt und nahm sich Doktor Munchs kleiner Kinderschar an.

„Krankheit, Wahnsinn und Tod sind die schwarzen Engel, die Wacht standen an meiner Wiege und mir durch das Leben gefolgt sind. Eine früh verstorbene Mutter – gab mir den Keim zur Auszehrung. Ein übernervöser Vater, pietistisch religiös bis zum Wahnsinn – von altem Geschlecht – gab mir die Keime zum Wahnsinn,“ dies schrieb Edvard Munch in einer seiner meist zitierten Aufzeichnungen. Nacheinander starben seine Nächsten. Er war dreizehn als seine ältere Schwester dem gleichen Schicksal erlag wie die Mutter.

Im neunzehnten Jahrhundert wurden  viele Familien von solchen Tragödien betroffen. Tuberkulose oder Auszehrung war nun der Massenmörder und eine weit verbreitete Vorstellung war, dass Auszehrung erblich war. Erst 1882 identifizierte Robert Koch den Krankheitserreger, die Tuberkelbazille. Aber noch lange blieb die Auszehrung von Mythen umwoben, wie Krebs und psychische Leiden heute. Auszehrung war ein Sammelbegriff für diverse Krankheiten, deren Ursprung die Ärzte nicht kannten. In medizinischen Kreisen in Christiania gab es heiße Diskussionen über die Verbreitung der Tuberkulose durch Ansteckung oder Vererbung. Die meisten meinten Vererbung. Es sollten viele Jahre vergehen bis die Humanmedizin Medikamente zur Vorbeugung und Heilung der Tuberkulose fand. Die Krankheit hat auch eine Kulturgeschichte. Nach 1882, muss bemerkt werden, begann man Tuberkulosensanatorien weit ab von den Städten und oft hoch oben in den Bergen zu bauen. Man denke hier an Thomas Manns Zauberberg. 

„Alle glücklichen Familien gleichen sich, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigen Art unglücklich.“ Mit diesem Satz begann Leo Tolstoj seinen großen Roman Anna Karenina (1875–77). War die Familie Munch glücklich? Nein, das glaube ich nicht. Die Briefe, die ich gelesen habe, berichten zwar von Freuden und Sorgen, wie sie in allen Familien vorkommen. Die ärmlich-vornehme, deklassierte Beamtenfamilie, die 1875 in das neue Arbeiterviertel Christianias umziehen musste, strengte sich an, Ehre und eine anständige bürgerliche Fassade zu bewahren.

Die Kinder wurden nach moderner Erziehungsmethode wie Kinder behandelt, sie lernten zeichnen und Briefe und Tagebücher zu schreiben. Die beiden Söhne wurden auf die Lateinschule geschickt, aber Edvard machte auf Grund von vielen und langen Krankheiten nie ein Examen. Die beiden Mädchen wurden zu Hause in Fremdsprachen, Stickerei und Klavierspiel unterrichtet. Die Familie war eifrige Kirchgänger und pflegte Umgang mit den religiösen Freunden des Vaters. Die jährlichen Rituale in Verbindung mit Geburtstagen und Festtagen trugen dazu bei, dass sich die kleine Kernfamilie mit einem größeren Kreis von Verwandten umgab. Das 19. Jahrhundert war das triumphierende Jahrhundert der Familie, schreibt Michelle Perrot. Aufgaben wie Ausbildung, Krankenpflege, Renten und Auskommenssicherung, um die sich heute die Öffentlichkeit kümmert, waren dazumal Anliegen der Familie. Das Privatleben war wirklich das private Leben.

Aber ich meine also, dass die Familie Munch nicht glücklich war – sie war auf ihre eigene Art unglücklich.

Meine Pakttheorie

Wie kann ich denn sagen, dass die Familie Munch eine gewöhnliche Familie war? Ich unterstreiche ja, dass Krankheit und Tod tragische Ereignisse waren, die im neunzehnten Jahrhundert die meisten Familien trafen. Der Beamtensohn und Künstler Christian Krohg, der 1882 Edvard Munchs Lehrer werden sollte, hatte eine ähnliche Geschichte. Die Mutter war früh gestorben, an ihrer Stelle kam eine Tante, und eine Schwester, Nana, wurde nur neun Jahre alt. Aber was Christian Krohg betrifft, so wurde seine frühe Familiengeschichte nicht zu einer intimen Verknüpfung mit seiner Kunst. Da bei Edvard Munch das Gegenteil der Fall war, liegt es nahe zu fragen: Was war das Besondere an der Munch-Familie? Wie lässt sich das Besondere erklären?

Es war nämlich so, dass ich während der Arbeit mit meinem Buch über gewisse Dinge zu stutzen begann. Dinge, die ich sowohl in den familien-geschichtlichen Quellen wie in dem mentalitätsgeschichtlichem Material fand. Ich kam auf die Spur eines so genannten Paktes, einer stillschweigenden Übereinkunft zwischen den Familienmitgliedern. Ich versuche also etwas zu erklären, was nicht erklärbar ist. Denn wie kann das Stumme, Ungesagte und Implizite im emotionellen Raum einer Familie erklärt werden? In Ermangelung von Beweisen habe ich nur Indizien, aber diese Indizien zeigen in Richtung eines Paktes.

Ich entwickelte eine Theorie oder eine Hypothese. Sie geht darauf hinaus, dass Edvard Munch und seine Geschwister schon in jungen Jahren verstanden hatten, dass sie auf Grund von erblichen Krankheiten in der Familie darauf verzichten sollten, zu heiraten und Kinder zu kriegen. Das war ein Verbot, das sie durch Begebenheiten, Handlungen und impliziten Wendungen erlebten. Ich bin davon überzeugt, dass dies nichts Besonderes für die Familie Munch war. Ich bin der Auffassung, dass die Furcht vor erblichen Krankheiten viele Menschen zum Entschluss gebracht hat, keine Kinder zu zeugen. Menschen haben dies ausgesprochen und Paare haben Abmachungen getroffen, eine kinderlose Ehe zu führen. Ein solches Verbot hatte, so meine ich, seine eigene Rationalität. Dies kann psychologisch als funktionierende Angstabwehr erklärt werden. Edvard und seine Geschwister entwickelten eine Gemeinschaft in der Angst vor der Weiterführung des Geschlechtes; eine Gemeinschaft, die den Zusammenhalt in der Familie stärkte und die den Grund für die „Vergötterung“ von Edvard als Genie bildete. Die Kunst war das Kind, das den Namen Munch in die Zukunft führen sollte.

Die Munch-Familie war sowohl gewöhnlich und besonders. Mamas Testament, das die Tante nach dem Tod des Vaters an Edvard sandte, bekam eine eigene symbolische Bedeutung: Es vermahnte die Hinterlassenen zusammenzuhalten, der Familie gegenüber treu zu sein. Ein Pakt ist etwas anders als eine Abmachung und beinhaltet Gegenseitigkeit. Wer die Bibel liest, wie es die Familie Munch tat, weiß genau, was ein Pakt ist. Der neue Pakt, der das Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen symbolisiert, ist für Gläubige ein zentrales Thema. Der Mensch soll sich die Gebote Gottes zu Herzen nehmen. Es ist Willenssache jedes Einzelnen, nach Gottes Gesetzen zu leben, und wer es tut, erhält ewiges Leben.

Indizien – Quellen und Interpretationen

Nun zu den Indizien, die auf einen Pakt hindeuten:
 Die Tante, Karen Bjølstad, die an den Kindern Mutterstelle vertrat, schlug das Heiratsangebot ihres Schwagers Christian Munch aus. Sie war das letzte lebende Kind von den acht Kindern aus erster Ehe des Kaufmanns Bjølstad. Dass sie nicht Frau Munch wurde, bedeutete, dass sie nie ganz zur guten Gesellschaft gehörte. Sie war die unverheiratete Tante und dies gab im 19. Jahrhundert einen geringen sozialen Status.

Im Herbst 1880 fasste der siebzehnjährige Edvard den Entschluss, Künstler zu werden. Von Anfang an bestärkte die Familie ihn in seinem Entschluss und opferte viel um ihn finanziell zu unterstützen. Sie glaubten an sein Genie; in der Verwandtschaft gab es mehrere geniale Männer, einer warP.A. Munch, den man den Vater der norwegischen Geschichtsschreibung nennt. Aber Edvard war von Natur her keine große Begabung, wie man dies von anderen Künstlern her kennt. Er hatte kein frühes aufsehenerregendes Debüt. Es vergingen lange neun Jahre bis er ein staatliches Reisestipendium erhielt, mit dem er an der Akademie von Leon Bonnat in Paris studieren konnte.

Als der Vater 1889 starb war Edvard in Paris. Er reiste erst fünf Monate später nach Hause. Edvard – der älteste Sohn – rückte nicht zum Oberhaupt der Familie auf, wie dies in der zeitgenössischen Familienkultur üblich war. Er sollte bleiben wo er war und sein Genie pflegen. Edvard war der Auserwählte der Familie. Er wurde frei gestellt, sodass er sich voll und ganz seiner Kunst widmen konnte. Während ich das reichhaltige Briefmaterial der Familie las, wurde ich darüber gerührt, wie sich die Tante, die Schwestern und der Bruder für ihn einsetzten und aufopferten. In dem Gruppenporträt, das ich in meinem Buch entwerfe, ist Edvard eigentlich der am wenigsten Sympathische. Er war egoistisch und egozentrisch und nahm es als eine Selbstverständlichkeit, dass sich die Familienmitglieder seinetwegen viel versagten.

Nach dem Tod des Vaters wurde der finanzielle Druck noch stärker. Aber die Tante, die schon lange ein kleines Heimgewerbe betrieben hatte, erweiterte dieses und begann Knabenanzüge, Krawatten und Schürzen zu nähen. Die beiden Schwestern mussten ihre Ausbildung abbrechen. Laura, die Pharmazeutin hatte werden wollen, nahm auf dem Land eine Stelle als Lehrerin an. Inger, die mit dem Lehrerstudium begonnen hatte,  begann Klavierstunden zu geben. Bruder Andreas setzte sein Medizinstudium fort und als neu ausgebildeter Arzt tat er viel um seinem älteren Bruder zu helfen. Während Edvards Ausstellungen in Berlin in den Jahren 1892–93, die Skandalerfolge wurden, anerbot sich Andreas, die positiven deutschen Kritiken zu übersetzen, sodass diese so schnell wie möglich in den Munch-freundlichen norwegischen Zeitungen gedruckt werden konnten. Im staatlichen Spital bildete Andreas zusammen mit jungen Ärzten einen informellen Verein zur Unterstützung von Edvard. Nachdem Andreas Munch auf der Insel Hadsel in Nord-Norwegen eine Arztpraxis übernommen hatte, unterstützte er Tante und Schwestern finanziell, obwohl er kurz vor der Heirat stand und Geld für sein kommendes Heim auf die Seite legen musste. In diesem Winter schrieb die Tante in einem Brief an Edvard: „(...) Andreas muss einem nicht leid tun, wenn er für Laura bezahlt, er verdient sehr gut.“ Edvard sollte sich jedoch nicht schlecht fühlen, weil er kein Geld schickte, denn etwas wusste die Tante: „ – wenn du obenauf kommst, wissen wir ja, dass Du „gerne hilfst.“
Im Herbst 1895 arrangierte Munch in seiner Heimatstadt Christiania eine Ausstellung, mit den Gemälden, die in Berlin solches Aufsehen erregt hatten – Der Schrei, Vampir, Madonna und andere. Es kam zu einem neuen Skandal, der dazu führte, dass Munchs junge Freunde in der Studentenvereinigung ein Treffen veranstalteten, um die negativen Kritiken zurückzuweisen. Dort aber ergriff ein Medizinstudent und Zeitungsschreiber, Johan Scharffenberg, das Wort. Es wurde still im Saal. Scharffenberg zog Munchs „mentalen Zustand“ in Zweifel und fuhr fort, dass das Gemälde Selbstporträt darauf hindeute, dass Munch kein normaler Mensch sei: „Aber wenn der Künstler abnorm ist, fällt ein Schatten auf seine ganze Kunst“ heißt es im Sitzungsreferat der Studentenvereinigung. Der Sprecher ließ sich von niemandem unterbrechen und sagte, dass sich das Publikum über Munchs Kunst erheben sollte. Und bevor Scharffenberg sich setzte, rief er aus: „Eine Bewegung, die von mehr oder weniger degenerierten Menschen getragen wird, wird mit ihnen sterben.“

Ein Freund, der Edvard Munch während dieser unerwarteten Äußerungen beobachtetet hatte, berichtete dass sich der Künstler totenbleich an eine Wand gelehnt hatte. Im Referat des Freundes werden Scharffenbergs Worte noch deutlicher. Wenn man Munchs Kunst verstehen wollte, müsse man sich vor Augen halten, dass in Munchs Geschlecht Tuberkulose und Geisteskrankheit vorkamen. Munchs Kunst war krank, weil er einem kranken Geschlecht angehörte.

Das war eine entsetzliche Behauptung, die Scharffenberg, der später so berühmte Psychiater und Gesellschaftskritiker, abgefeuert hatte. Sie verschafft Einblick in die damalige Ansicht über Vererbung und Degeneration, nicht nur in Bezug auf Krankheit, sondern auch auf Kunst. Scharffenberg muss Max Nordaus Entartung von 1892 offenbar gekannt haben. Nordaus Buch ist ein wütender Angriff auf die modernen Geistesströmungen in Literatur und Kunst, die unter Namen wie Dekadenz, Fin-de-siècle, Symbolismus und Mystizismus gingen. Baudelaire, Nietzsche und Ibsen waren unter den „Berühmtheiten“, die Nordau aufs schärfste verurteilt: Ihre Werke zeugen von Degeneration – krankhafter Überempfindlichkeit und Ichbezogenheit, „ego-mania“. Nordau rief eine Warnung aus und appellierte an die gesunde Vernunft des Publikums und der Obrigkeit: Die Kultur des Westens müsse vor dem Untergang gerettet werden. Der Degenerationsstempel, den Scharffenberg Munchs Kunst aufdrückte, war Ausdruck der bürgerlichen Zivilisationskritik rund um die Jahrhundertwende.
Einen Monat danach starb Bruder Andreas. Er war frisch verheiratet und erlebte die Geburt seiner Tochter nicht mehr. Er war ein Träumer und fand sich wie sein Vater nie ganz zurecht. In einer seiner Notizen schreibt Edvard Munch, dass alle Geschwister die Nervosität des Vaters geerbt hätten.

In diesem Zusammenhang muss auch Lauras herzerschütternde Geschichte erwähnt werden. Sie war wohl die begabteste und intelligenteste der Geschwister, hatte aber große Probleme. Im Winter 1892 ließ sie sich ins Gaustad Asyl für Geisteskranke einliefern, in der Hoffnung, von ihrer Nervosität geheilt zu werden. Gaustad war eine moderne Klinik, die ihre Patienten behandelte und nicht nur zur Aufbewahrung hatte. Nach zwei Jahren wurde sie entlassen. Man hatte erreicht, was mit der Behandlung zu erreichen war. Infolge ihres Journals war die Ursache ihres geistigen Leidens Vererbung. In ihrem Geschlecht gab es auf Vaters Seite mehrer Fälle von Geisteskrankheit. Vererbung – das war ein entsetzliches Urteil.

Als sie nach Hause kam, glaubten die Familienmitglieder nicht, das dies der Fall sei. Andreas, der ja Arzt war, meinte, dass an Laura nichts Abnormales war. Aber sie kam mit dem Alltag nicht zurecht. Nach zwei weiteren kurzen Spitalaufenthalten und Rekonvaleszenz auf dem Lande, wurde sie Langzeitpatientin im Oslo Hospital, der alten Irrenanstalt der Hauptstadt. Dort war sie während zehn Jahren, von 1902 bis 1912.

Weder Laura noch Inger haben jemals geheiratet; wenn man dem hinterlassenen Material im Munch-Museum Glauben schenken kann, gab es auch keine einzige Liebesgeschichte. Die erwähnte Inschrift auf dem Grabstein im Nordstrand Friedhof ist ein Zeugnis der Aufopferung der Tante und der Schwestern für Edvard.

Edvard heiratete auch nie. Aber seit der Jugendzeit hatten er und der Bruder Frauengeschichten, Frauengeschichten, die die Tante als Bedrohung auffasste. Drei Jahre nach dem Tod des Bruders verstrickte sich Edvard in eine Affäre mit Fräulein Tulla Larsen, einer Dame der guten Gesellschaft. Das kam einer Verlobung gleich, denn in solchen Fällen erwartete man, dass der Mann die Frau heiratete, da sie sonst als ehrlos dastehen würde. Das führte dazu, dass Munch die Heirat mit Tulla plante; er dachte jedoch an eine Pro-Forma-Ehe. Aus einem Briefentwurf, der erstaunlicherweise erhalten ist, geht hervor, dass er zwei Bedingungen stellte: Sie müssten kinderlos bleiben und wie Bruder und Schwester zusammenleben, erst dann könne er sie lieben. Außerdem ermunterte er Tulla, ihren eigenen Interessen nachzugehen, zu studieren, zu zeichnen und grafische Blätter anzufertigen. Sie akzeptierte die Bedingungen, aber zu einer Heirat kam es trotzdem nicht, denn Munch flüchtete.
In dem gleichen Schriftstück, in dem Munch von den schwarzen Engeln spricht, die an seiner Wiege gestanden hatten, steht, dass er sich an den Gedanken gewöhnt habe, nicht zu heiraten. Hatte er das Recht dazu? Die Kunst war sein einziges Ziel. In einer anderen selbstbiografischen Aufzeichnung in Tagebuch eines wahnsinnigen Dichters, steht: „Der verrückte Dichter“ hatte einen einzigen ernsten Grund auf die Ehe zu verzichten: „Er erklärte ihr seine Unfähigkeit zu lieben. Der Grund war der Fluch, der in Form von erblichen körperlichen und geistigen Krankheiten auf ihm und seiner Familie lastete, – der ihn dazu gebracht hatte, es als eine heilige Pflicht anzusehen, nicht zu heiraten und keine Familie zu stiften.“

Glaubte er selbst, was er schrieb? Oder hatte er es nur getan, um sich selbst als Genie zu inszenieren? Ich bin davon überzeugt, dass er fürchtete und glaubte, dass erbliche Krankheiten sein Geschlecht heimsuchten, ein Gedanke, den er mit seiner Tante und den Schwestern teilte. Es ist richtig, dass diese Vorstellung mit der romantischen Künstlerrolle übereinstimmt. Aber warum sollte Munch in seinen Notizen, die nicht für die Öffentlichkeit gemeint waren, etwas erfinden. Für ihn waren Leben und Kunst eins. Das Leben wurde zu Kunst und Kunst war nicht nur seine eigene Ambition. Mit Tante Karen an der Spitze wurde sie zur Ambition der ganzen Familie.
„Fluch“ – in der vormodernen Gesellschaft war der Fatalismus verbreitet, da die Medizin einer Reihe Krankheiten machtlos gegenüberstand. Der Modernitätsforscher Anthony Giddens ist einer von denen, die den Fatalismus zu einem Kennzeichen der vormodernen Gesellschaft machen: Die meisten Leute glaubten, dass es einen Gott gab, der allen das Leben auf der Erde zumaß. Das damalige Gedankengut war vom Gottes- und Schicksalsglauben geprägt. – Fatalismus, wenn man will.

Ein Pakt im Zeitalter der „Degeneration“?

Vor hundert Jahren dominierte der Vererbungsgedanke und die Ärzte sprachen sich über das Risiko aus, wenn erbbiologisch Kranke Kinder bekamen. Mit nur einer Gegenstimme verabschiedete 1934 das norwegische Parlament ein Gesetz zur Sterilisation. Das Gesetz besagte, dass Menschen mit erblichen geistigen Leiden, Geistesschwache und Kriminelle zwangssterilisiert werden konnten. Der Gesetzesvorschlag war von Doktor Johan Scharffenberg in die Feder geführt worden. Er selbst hatte schon früh den Entschluss gefasst, auf eine Ehe zu verzichten, da in seiner Familie erbliche Krankheit vorkam. Es war der Gleiche, der in der Studentenvereinigung vierzig Jahre zuvor, das harte Urteil über Munch ausgesprochen hatte.

Munch sollte Scharfenbergs Aussage nie vergessen; in seinen älteren Tagen erklärte er: „Mein Großvater starb an Rückenmarksauszehrung und ich glaube, dass das starke Nervenleiden, das mein Vater und mit der Zeit wir Kinder bekamen, das Erbe davon war.“ Aber in der Fortsetzung weist er Scharffenbergs Behauptung zurück: „Aber ich  meine nicht, dass meine Kunst deshalb krank ist – wie Scharffenberg und andere unverständige Leute gemeint haben. Sie verstehen das Wesen der Kunst nicht und kennen ihre Geschichte nicht.“ Mit anderen Worten betrachtete Munch seine Kunst als gesund, selbst wenn sie die dunklen Seiten des Menschenlebens schilderte.

Die moderne Medizin hat die Vererbungs- und Degenerationstheorien des 19. Jahrhunderts schon längst verworfen. Krankheitsdiagnosen sind nicht ewiggültig. Aber die Geschichte der Familie handelt von Dingen, die die Menschen durch alle Zeiten berührt haben. Abschied von einer sterbenden Mutter oder Schwester, die Sorge über den Verlust und der Schmerz der Angst. Ob die Familie Munch eine Übereinkunft getroffen hatte, keine Kinder zu kriegen, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Aber dass Edvards Kunst der kinderlosen Tante und den kinderlosen Schwestern Trost und Hoffnung gab, davon bin ich überzeugt. Sie haben sich nicht vergebens geopfert.

Ich gebe zu, dass meine Theorie nicht bewiesen ist, aber Historiker können ihre Theorien nicht immer mit Beweisen unterbauen. Es ist absolut zulässig, Theorien zu entwickeln und, wenn sie nicht bewiesen werden können, zu versuchen, diese zu entkräften. Und wenn das nicht glückt, muss man sie als plausibel vorlegen können. Dies habe ich getan, weil ich auf die Bedeutung der Mentalität hinweisen wollte."


Quelle: Bodil Stenseth. Aus dem norwegischen übersetzt von Charlotte Oldani   |   Bookmark and Share